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Link zum Solorecital von Christoph Grund beim Ultraschallfestival 2016

 

Uraufführung von S3 von Mark Andre

listen listen to  S3 für Klavier solo von Mark Andre

 

Der aus dem Elsass stammende Komponist Mark Andre lebt seit 2005, seitdem er Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD war, in Berlin. Mark Andre mag die Offenheit der Stadt und ist fasziniert von den Brüchen und den Spuren der Teilung in dieser Stadt. Solche Brüche, offen zutage tretende Übergänge und Zwischenräume interessieren ihn auch in der Musik. Das, was an den Rändern passiert, nimmt er mit einem wachen Sensorium auf. Das ist es auch, was ihn in seinen Kompositionen interessiert, er hört auf das, was zwischen den Klängen passiert. Sein neuestes Stück, das er als Auftragswerk des rbb für Ultraschall Berlin komponiert hat, trägt den Namen S3. Dass der Titel nach einer S-Bahn-Linie klingt, ist letztlich eine Koinzidenz, die jedoch gerne hingenommen wird. Schließlich durchqueren gerade in Berlin ja viele S-Bahnen auch die ehemaligen Grenzgebiete, wo einst die Mauer als Trennlinie zwischen den Sektoren stand. Vor allem steht das „S“ jedoch für Schwelle, was gerade diesen Zwischenraum, diesen Zwischenzustand, diesen offenen Übergang markiert, der Mark Andre immer wieder anzieht. In den Werken S1 für zwei Klaviere (2012) und S2 für Schlagzeug (2015) hat der Komponist bereits Aspekte der Schwelle musikalisch behandelt.
S 3 ist entstanden während eines Künstleraufenthalts in Istanbul, wo Mark Andre im Jahr 2015 Stipendiat der Villa Tarabya war, ein Programm der Bundesrepublik Deutschland zum deutsch-türkischen Kulturaustausch. Istanbul als Stadt, die gleich mehrfach Schwellen zwischen verschiedenen Kontinenten, Kulturen, Religionen und Epochen prägen, hat Mark Andre dementsprechend stark inspiriert. Er hat hier Alltagsklänge von Orten aufgenommen, an denen vor allem die zeitlichen Schwellen zwischen verschiedenen Epochen besonders eindrücklich wahrzunehmen sind: Eine Adresse, die ihn anzog, war der Bahnhof Istanbul Sirkeci, der im unteren Teil ein moderner quirliger Verkehrsknotenpunkt ist und im ruhigen, geradezu verlassenen oberen Teil noch an seine Zeit als ehemalige  Endstation des legendären Orient-Express erinnert. Für Mark Andre, der ein feines Gespür für die Atmosphäre von Orten besitzt, hat dieser alte Bahnhof etwas zutiefst Existenzielles und Metaphysisches als eine Stätte des Ankommens und des Übergangs. Da er als religiöser Künstler stets das Metaphysische sucht, hat der Komponist auch Klangeindrücke in zwei Kirchen aus byzantinischer Zeit eingefangen, Hagia Sophia und Hagia Irene, die eine Zeit lang als Moscheen dienten und heute Museen sind.
Die konkreten Klänge aus Istanbul sind in Mark Andres Komposition S3 für Klavier und Elektronik allerdings keineswegs plakativ als klingende Postkartengrüße vom Bosporus zu hören. Er lässt sie vielmehr mittels digitaler Verarbeitungsprozesse als Spuren, als „entkonkretisierte Klangschatten“, wie er es nennt, aufscheinen, so wie die Spuren der wechselhaften Geschichte im Alltag der Metropole Istanbul heute noch präsent sind. Über winzige Lautsprecher, die im Inneren des Konzertflügels angebracht sind, treten diese Klangspuren aus Istanbul ins Geschehen. Das Instrument nimmt mit seinem Korpus die Resonanzen auf und funktioniert auf diese Weise wie eine überdimensionierte Lautsprecherbox. Doch nicht bloß auf der Ebene der Elektronik wirken die Eindrücke aus Istanbul auf dieses Musikstück: Mit einer bestimmten Audiosoftware hat Mark Andre die aufgenommenen Klänge analysiert und das Tonmaterial für den Klavierpart daraus abgeleitet. Insofern werden die Aufnahmen aus Istanbul auf zweifache Weise transformiert und machen das Stück zu einem Palimpsest mit vielfachen Überschreibungen – sowohl anhand des ursprünglichen Klangmaterials aus dem Aufnahmegerät mit den Klängen von Orten mit vielfältigen historischen Spuren als auch in der subtilen kompositorischen Verarbeitung. „Zeitebenen, Erinnerungen, so etwas findet im Inneren statt“, sagt Mark Andre. S3 ist Christoph Grund gewidmet und wurde im Rahmen des
Ultraschallfestivals 2016 von ihm uraufgeführt.

 

 Eckhard Weber