Der aus dem Elsass stammende Komponist Mark Andre
lebt seit 2005, seitdem er Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD
war, in Berlin. Mark Andre mag die Offenheit der Stadt und ist
fasziniert von den Brüchen und den Spuren der Teilung in dieser Stadt.
Solche Brüche, offen zutage tretende Übergänge und Zwischenräume
interessieren ihn auch in der Musik. Das, was an den Rändern passiert,
nimmt er mit einem wachen Sensorium auf. Das ist es auch, was ihn in
seinen Kompositionen interessiert, er hört auf das, was zwischen den
Klängen passiert. Sein neuestes Stück, das er als Auftragswerk des rbb
für Ultraschall Berlin komponiert hat, trägt den Namen
S3. Dass der Titel nach einer S-Bahn-Linie klingt, ist
letztlich eine Koinzidenz, die jedoch gerne hingenommen wird.
Schließlich durchqueren gerade in Berlin ja viele S-Bahnen auch die
ehemaligen Grenzgebiete, wo einst die Mauer als Trennlinie zwischen den
Sektoren stand. Vor allem steht das „S“ jedoch für Schwelle, was gerade
diesen Zwischenraum, diesen Zwischenzustand, diesen offenen Übergang
markiert, der Mark Andre immer wieder anzieht. In den Werken
S1 für zwei Klaviere (2012) und
S2 für Schlagzeug (2015)
hat der Komponist bereits Aspekte der Schwelle musikalisch behandelt.
S 3 ist entstanden
während eines Künstleraufenthalts in Istanbul, wo Mark Andre im Jahr 2015 Stipendiat der Villa Tarabya
war, ein Programm der Bundesrepublik
Deutschland zum deutsch-türkischen Kulturaustausch. Istanbul als Stadt,
die gleich mehrfach Schwellen zwischen verschiedenen Kontinenten,
Kulturen, Religionen und Epochen prägen, hat Mark Andre dementsprechend
stark inspiriert. Er hat hier Alltagsklänge von Orten aufgenommen, an
denen vor allem die zeitlichen Schwellen zwischen verschiedenen Epochen
besonders eindrücklich wahrzunehmen sind: Eine Adresse, die ihn anzog,
war der Bahnhof Istanbul Sirkeci, der im unteren Teil ein moderner
quirliger Verkehrsknotenpunkt ist und im ruhigen, geradezu verlassenen
oberen Teil noch an seine Zeit als ehemalige Endstation des legendären
Orient-Express erinnert. Für Mark Andre, der ein feines Gespür für die
Atmosphäre von Orten besitzt, hat dieser alte Bahnhof etwas zutiefst
Existenzielles und Metaphysisches als eine Stätte des Ankommens und des
Übergangs. Da er als religiöser Künstler stets das Metaphysische sucht,
hat der Komponist auch Klangeindrücke in zwei Kirchen aus byzantinischer
Zeit eingefangen, Hagia Sophia und Hagia Irene, die eine Zeit lang als
Moscheen dienten und heute Museen sind.
Die konkreten Klänge aus Istanbul sind in Mark Andres Komposition
S3 für Klavier und
Elektronik allerdings keineswegs plakativ als klingende Postkartengrüße
vom Bosporus zu hören. Er lässt sie vielmehr mittels digitaler
Verarbeitungsprozesse als Spuren, als „entkonkretisierte Klangschatten“,
wie er es nennt, aufscheinen, so wie die Spuren der wechselhaften
Geschichte im Alltag der Metropole Istanbul heute noch präsent sind.
Über winzige Lautsprecher, die im Inneren des Konzertflügels angebracht
sind, treten diese Klangspuren aus Istanbul ins Geschehen. Das
Instrument nimmt mit seinem Korpus die Resonanzen auf und funktioniert
auf diese Weise wie eine überdimensionierte Lautsprecherbox. Doch nicht
bloß auf der Ebene der Elektronik wirken die Eindrücke aus Istanbul auf
dieses Musikstück: Mit einer bestimmten Audiosoftware hat Mark Andre die
aufgenommenen Klänge analysiert und das Tonmaterial für den Klavierpart
daraus abgeleitet. Insofern werden die Aufnahmen aus Istanbul auf
zweifache Weise transformiert und machen das Stück zu einem Palimpsest
mit vielfachen Überschreibungen – sowohl anhand des ursprünglichen
Klangmaterials aus dem Aufnahmegerät mit den Klängen von Orten mit
vielfältigen historischen Spuren als auch in der subtilen
kompositorischen Verarbeitung. „Zeitebenen, Erinnerungen, so etwas
findet im Inneren statt“, sagt Mark Andre. S3 ist Christoph Grund
gewidmet und wurde im Rahmen des
Ultraschallfestivals
2016 von ihm uraufgeführt.
Eckhard
Weber
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